24. September 2013 · Kommentare deaktiviert für Sorgerechtliche Maßnahmen nach § 1666 BGB bei ungeborenen Kindern? · Kategorien: Aktuelle Entwicklungen, Sorgerecht

Inwieweit bei ungeborenen Kindern, dem sog. nasciturus (ein bereits gezeugtes, aber noch ungeborenes Kind) sorgerechtliche Maßnahmen gem. § 1666 BGB möglich sind, ist seit schon seit längerem umstritten und auch die Rechtspraxis zeigt, dass bei den Gerichten in dieser Frage Unsicherheiten bestehen. Im Folgenden soll ein kurzer Überblick über den aktuellen Diskussionsstand gegeben werden.

  1. Ist § 1666 BGB bei ungeborenen Kindern überhaupt anwendbar?
  2. Welche konkreten Maßnahmen könnte das Gericht aussprechen?
  3. Die sog. “Vorratsentscheidung”
  4. Fazit

Anwendbarkeit?

Die Vorschrift des § 1666 BGB spricht ausdrücklich von einem Kind und die Rechtsfähigkeit eine Menschen beginnt mit der Vollendung der Geburt (§ 1 BGB). Daher ist es mehr als naheliegend, die Anwendbarkeit des § 1666 BGB bei ungeborenen Kinder grundsätzlich abzulehnen. Soweit sich dies überblicken lässt, spricht sich die wohl inzwischen herrschende Meinung jedoch für eine prinzipielle Anwendbarkeit aus. So ist etwa die Schutzwürdigkeit des ungeborenen Kindes im § 1912 Abs. 1 dokumentiert (Pflegschaft für eine Leibesfrucht) und daher würde auch ein ungeborenes Kind in den Schutzbereich des § 1666 BGB fallen (OLG Celle, FamRZ 1987, 1751ff.; Rakete-Dombek, in: Kaiser/Schnitzler/Friederici, NK-BGB, 2. Aufl., 2010, § 1666 BGB, Rn.4). Zudem würde die Rechtsfähigkeit des Kindes zwar erst mit der Geburt beginnen und eine Anwendung des § 1666 BGB bei einem nasciturus wäre daher zwar problematisch, jedoch hat das Bundesverfassungsgericht die verfassungsrechtliche Schutzwürdigkeit des ungeborenen Lebens bejaht und vor dem Hintergrund der in § 1912 Abs. 2 BGB geregelten Rechtspositionen wäre daher vor einer Anwendbarkeit zu bejahen (Büte, in: Johannsen/Henrich/, Familienrecht, 5. Aufl., 2010, § 1666 BGB, Rn. 6). Auch wäre zwar die Grenze des möglichen Wortsinns erreicht, aber angesichts der auch in den §§ 1923 Abs. 1, 844 Abs. 2 S. 2 und dem § 218 StGB niedergelegten Rechtspositionen fiele das ungeborenen Kind in den Anwendungsbereich § 1666 BGB (Olzen, in: MüKo-BGB, 6. Aufl., 2012, § 1666 BGB, Rn. 4). Schließlich würde zwar der § 1912 Abs. 2 BGB nur von “künftigen Rechten” der Leibesfrucht sprechen, jedoch wäre diese Vorschrift im historischen Kontext zu verstehen und seit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (NJW 1993, 1751 ff.) und der § 1666 BGB daher verfassungskonform auf schon bestehende Rechte des nasciturus auszudehnen (Coester, in: Staudinger-BGB, 2009, § 1666, Rn. 26).

Die Gegenansicht lehnt die Anwendung des § 1666 BGB ab, da die elterliche Sorge erst mit der Geburt des Kindes entstehen würde und Eingriffe folglich erst dann möglich wären, allerdings wäre eine sog. “Vorratsentscheidung” möglich, durch die die elterliche Sorge zum Zeitpunkt der Geburt entzogen wird (so etwa ein DIJuF-Gutachten, JAmt 2002, 248). Zudem würde es sich bei Regelungen wie dem § 1912 Abs.1 BGB um Spezialregelungen handeln, Kinder im zivilrechtlichen Sinne wären grundsätzlich nur geborene Kinder, somit würde nicht nur eine direkte, sondern auch analoge Anwendung des § 1666 BGB ausscheiden (Czerner, ZKJ 2010, 223ff., der andererseits jedoch vom einer “genuinen Anerkennung einer isoliert teleologisch begründbaren temporalen Ausdehnung der Vorschrift des § 1666 BGB gegenüber dem Nasciturus” spricht, letztlich jedoch die Schaffung eines § 1666b BGB vorschlägt). Eine vom BMJ beauftragte “Arbeitsgruppe Familiengerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls – 1666 BGB” lehnte in ihrem Abschlussbericht vom 14.7.2009 nicht nur die Anwendung des § 1666 BGB ab, sondern hält auch entsprechende Gesetzesänderungen nicht für zielführend, vielmehr wäre ein Rückgriff auf ausgeweitete Hilfsangebote der von Jugendhilfe und Gesundheitsfürsorge erfolgversprechender.

Welche Maßnahmen kommen in Betracht?

Geht man von einer zumindest prinzipiellen Anwendbarkeit des § 1666 BGB aus, stellt sich zwangsläufig die Frage, welche Art von Maßnahmen ein Gericht verhängen könnte. So darf die Anwendung des § 1666 BGB auf ein ungeborenes Kind nicht dazu führen, dass die im § 218 StGB geschützten Interessen der schwangeren Frau übergangen werden, so wäre etwa bei indizierten (d.h. gerechtfertigten) Schwangerschaftsabbrüchen (§ 218a StGB) ein auf § 1666 BGB gestütztes Abtreibungsverbot zum Schutz des ungeborenen Kindes unzulässig (Rakete-Dombek, in: Kaiser/Schnitzler/Friederici, NK-BGB, 2. Aufl., 2010, § 1666 BGB, Rn.4). Olzen weist darauf hin, dass zwar eine diesbezügliche Rechtsprechung (noch) nicht ersichtlich ist, andererseits aber gerichtliche Maßnahmen, der der Mutter während der Schwangerschaft bestimmte Verhaltensweise auferlegen, nicht grundsätzlich ausgeschlossen sind. So kann es vor dem Hintergrund des § 1666 BGB sicher nicht um eine “optimale Schwangerschaft” gehen, sondern eher darum, Gefährdungen für die Entwicklung des Kindes abzuwenden, wie dies etwa bei Drogenkonsum, Alkoholmissbrauch (Alkoholembryopathie) oder bestimmten gefährlichen Sportarten der Fall sein kann, soweit sich die Gefahr von Schädigungen oder Fehlgeburten drastisch vergrößert. Allerdings ist sehr zweifelhaft, dass die Gerichte ein Rauchverbot für Frauen während der Schwangerschaft aussprechen, da die Rechtsprechung bereits ein Rauchverbot bei einem schon geborenen Kind ablehnt (Olzen, in: MüKo-BGB, 6. Aufl., 2012, § 1666 BGB, Rn. 41). Somit bleibt eine bloße Schädigung anders als im Fall einer Abtreibung (vgl. §§ 218ff. StGB) mangels ausreichender Regelung in das Ermessen der Mutter gestellt (Coester, FPR 2009, 551).

Bei Schwangerschaftsabbrüchen ist der Kinderschutz eingeschränkt, soweit erstere nach § 218a StGB der Letztentscheidung der Frau überlassen sind, andererseits besteht kein Grund für die Einschränkung flankierender Maßnahmen durch die Familiengerichte, soweit das Strafrecht den Lebensschutz über die Entscheidungsfreiheit der Frau stellt (Coester/Staudinger, 2009, § 1666, Rn. 31-33).

Die sog. Vorratsentscheidung

Wie oben schon angedeutet, wird sowohl in der rechtswissenschaftlichen Diskussion, als auch in der Rechtsprechung teilweise mit der sog. “Vorratsentscheidung” gearbeitet. Dies geht offensichtlich auf einige Entscheidungen zurück, die schon in den Achtziger Jahren ergangen sind. So hat etwa das LG Berlin damals entschieden, dass bei einer drogensüchtigen Mutter aus lang andauernden und wiederholten Versagen auch die Besorgnis zukünftigen Versagens abgeleitet werden könne (ZfJ 1980, 188). Das KG Berlin hielt bei einem Elternpaar, das wegen Mordtaten an anderen Kindern verurteilt wurde, einen Sorgerechtsentzug unmittelbar nach der Geburt für möglich, ohne dass ein Versagen der Eltern in Bezug auf dieses (noch ungeborene) Kind erforderlich wäre (FamRZ 1981, 590). Das DIJuF scheint u.a. aufbauend auf diese beiden Entscheidungen den Begriff “Vorratsentscheidung” in die Diskussion eingeführt zu haben, wonach angesichts der persönlichen Verhältnisse der Eltern (Mord an anderen Kindern, beabsichtigte Betreuung in einer JVA, notwendige Fremdunterbringung der übrigen Kinder) eine Gefährdung des zu noch zu erwartenden Kindes zu erwarten ist, ohne dass dies durch den Nachweis einer konkreten Vernachlässigung zu begründen wäre (JAmt 2002, 249). Dementsprechend wäre es erst recht zulässig, vor Geburt lediglich einen Erörterungstermin durchzuführen, in dem etwa ein unmittelbar nach der Geburt drohender Sorgerechtsentzug thematisiert wird, was die schwangere Mutter möglicherweise dazu motivieren könnte, sich noch vor der Geburt auf Hilfemaßnahmen einzulassen (DIJuF-Gutachten, JAmt 2008, 250). Ohne sich explizit darauf zu beziehen, hat das Familiengericht Tempelhof-Kreuzberg wohl auf diesen Überlegungen aufbauend eine schwangeren Frau mit bereits 4 außerhalb des Haushalts lebenden Kindern aufgrund ihrer Alkoholsucht und “Defizite im lebenspraktischen Bereich” (unkooperatives bis aggressives Verhalten gegenüber dem Jugendamt, keine Vorsorgeuntersuchungen) das Sorgerecht entzogen und einem Amtsvormund übertragen (27.5.2008, Az.: 143 F 6909/08, n.v.). Selbst wenn man in Extremfällen von der Zulässigkeit einer “Vorratsentscheidung” ausgeht, dürfte diese Entscheidung wohl nicht unproblematisch sein, da es sich hier einerseits nicht um ein Ehepaar handelt, die nachweisbar bereits andere Kinder ermordet haben und in sich in Haft befinden (wie etwa der obige Fall des LG Berlin), andererseits flankierende Maßnahmen offensichtlich nicht einmal in Erwägung gezogen wurden. Ein Sorgerechtsentzug ist immer das “schärfste Schwert” des § 1666 BGB und in diesem Fall dürfte der Eingriff in das verfassungsrechtlich geschützte Elternrecht aus Art. 6 GG wohl nur noch schwer zu rechtfertigen sein.

Fazit

Die Anwendung des § 1666 BGB auf ein ungeborenes Kind kann entgegen dem Wortlaut des § 1666 BGB mit guten verfassungsrechtlichen und rechtssystematischen Argumenten vertreten werden (wie dies die h.M. ja auch tut). Allerdings sollte man mit sog. “Vorratsentscheidungen” äußerst behutsam umgehen und nie die notwendige Abwägung mit dem Elternrecht aus dem Auge verlieren. Aus diesem Grund sind – soweit ersichtlich – auch so gut wie keine Gerichtsentscheidungen bekannt, wonach bei noch ungeborenen Kindern sofort zu der einschneidendsten Maßnahme des § 1666 BGB – nämlich der Sorgerechtsentzug – gegriffen wurde. Naheliegender ist es hier, von Seiten des Familiengerichts flankierenden Maßnahmen zu prüfen, insbesondere die Inanspruchnahme öffentlicher Angebote von Jugendhilfe und Gesundheitsfürsorge anzuordnen (§ 1666 Abs. 3 Nr. 1 BGB). Auch sollte – wie dies im Abschlussbericht der BMJ-Arbeitsgruppe geschehen ist – genau zwischen zwei Fallgruppen unterschieden werden, je nachdem es sich um eine bereits während der Schwangerschaft erkennbare Gefährdung des Kindes nach der Geburt oder eine Gefährdung des ungeborenen Kindes während der Schwangerschaft handelt.

Sollten Sie diesbezüglich Bedarf an einer Rechtsberatung oder gerichtlichen Vertretung haben, stehe ich Ihnen hierfür gerne zur Verfügung.

 

 

 

 

 

Kommentare geschlossen.