07. Oktober 2012 · Kommentare deaktiviert für Die “Gefährdungseinschätzung” im neuen § 8a SGB VIII und strafrechtlich relevantes Fehlverhalten · Kategorien: Aktuelle Entwicklungen, Kinder- und Jugendhilferecht (SGB VIII)

Der Lüneburger Strafrechtler Peter Bringewat hat sich der Problematik des strafrechtlich relevanten Fehlerpotentials angenommen, die der § 8a SGB VIII (n.F.) für die beteiligten Fachkräfte vor allem hinsichtlich der fahrlässigen Begehung eines Deliktes aufwirft (ZKJ 09/2012, S. 330-336). Seine aufschlussreichen strafrechtsdogmatischen Überlegungen sollen hier kurz dargestellt werden.

Bringewat trägt zunächst die These vor, der Gesetzgeber hätte mit der Neuformulierung des § 8a SGB VIII (ungewollt) einen ersten Schritt zu einem eigenen kinder- und jugendhilferechtlichen Gefährdungsbegriff  getan. Gestützt wird diese These mit dem Begriff der “Gefährdungseinschätzung”, die im neuen § 8a Abs.4 SGB VIII zu finden ist, im  § 8a Abs. 2 SGB VIII a.F. hingegen war noch von einer “Abschätzung des Gefährdungsrisikos” die Rede. Allerdings wurde nach der wohl h.M. schon unter der alten Regelung mit der Begriff der Gefährdungseinschätzung statt dem Gefährdungsrisiko gearbeitet, der Gesetzeswortlaut sollte bei “nächster Gelegenheit nachgebessert werden” (vgl. Wiesner, SGB VIII, 4. Aufl., § 8a, Rn. 13).

Überzeugend sind jedoch seine Ausführungen zur strafrechtlichen Dimension des Schutzauftrages. So beschränkt sich ein strafrechtlich relevantes Verhalten bei kinder- und jugendhilferechtlichen Fallkonstellationen nahezu immer “nur” auf den Vorwurf der Fahrlässigkeit. Im Regelfall wird ein solcher strafrechtlicher Fahrlässigkeitsvorwurf dann erhoben, wenn nach “durchschnittlich” anzuwendenden Sorgfaltsmaßstäben ein Sorgfaltsmangel vorliegt. Nun verfügen Fachkräfte in der Kinder- und Jugendhilfe natürlich über ein “fachliches Sonderwissen”, was naturgemäß zu einer Verschärfung des Maßstabs führen muss. Bei dem hier anzulegenden Sorgfaltsmaßstab handelt es sich also um einen generalisierenden Durchschnittsmaßstab der standardisierten Sonderfähigkeiten. Diese sind jedoch nicht identisch mit den fachlichen Standards, da die Zielrichtung “professioneller Fachlichkeit” nicht wie beim strafrechtlichen Fahrlässigkeitsvorwurf primär in der Abwehr strafrechtlich geschützter Rechtsgüter besteht. Fachliche Standards können somit der Konkretisierung strafrechtlich relevanter “Sonderfähigkeiten” dienen, ohne dass der Umkehrschluss zulässig wäre. Der strafrechtliche Rechtsgüterschutz darf sich niemals durch Fachlichkeit eines Handelns relativieren lassen.

Unter Zugrundelegung des strafrechtlichen Fahrlässigkeitsbegriffs und entsprechend abgeleiteter Vorgaben bedeutet dies, dass bei der Gefährdungseinschätzung 4 mögliche Fehlerquellen eine Rolle spielen (können), die sich mehr oder weniger direkt aus dem Gesetzestext herleiten lassen:

  1. fehlerhafte Handhabung gewichtiger Anhaltspunkte,
  2. Nichteinleitung des Verfahrens der Gefährdungseinschätzung
  3. fehlerhafte Aufklärung des Einschätzungssachverhalts
  4. fehlerhafte Besetzung des zusammenwirkenden Fachkollegiums.

Anhaltspunkte sind tatsächliche Umstände, die das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung indizieren. Die Gewichtigkeit ist nicht erst dann gegeben, wenn eine Gefährdung aus fachlicher Sicht nahe liegt, sondern mit einer begründeten Wahrscheinlichkeit möglich scheint. Hier geht es ausdrücklich nicht um eine erste Gefährdungseinschätzung, sondern ausschließlich um Feststellung ausreichender Anhaltspunkte, an die sich ohne weitere Zwischenschritte eine Gefährdungseinschätzung anschließen lässt. Typische Fehler liegen dementsprechend vor darin, dass die Gewichtigkeit der Anhaltspunkte mit einer eventuellen Gefährdungsintensität gleichgesetzt bzw. verneint wird und es gar nicht erst zu der gesetzlich vorgeschriebenen Gefährdungseinschätzung kommt.

Davon zu unterscheiden ist die zweite Fehlerquelle, die in der Nichteineinleitung des Verfahrens der Gefährdungseinschätzung trotz der Feststellung gewichtiger Anhaltspunkte besteht. In diesem Fall träfe der Strafrechtsvorwurf einer fahrlässigen Deliktsverwirklichung durch Unterlassen ausschließlich die nach interner Zuständigkeitsverteilung fallzuständige Fachkraft, selbst bei unzulänglichen Entscheidungsprozessen, die die Leitungsebene zu verantworten hat.

Bei der dritten Fehlerquelle geht es darum, dass im Rahmen eines gesetzlich vorgeschriebenen Verfahrens zur Beurteilung und Bewertung von gefährdungsindizierenden Risikofaktoren eine mögliche Kindeswohlgefährdung so konkret festzustellen ist, dass die zur Abwehr geeigneten und notwendigen kinder- und jugendhilferechtlichen Mittel bestimmt und dann auch eingesetzt werden können. Ist hier eine im Ergebnis falsche Bewertung vorgenommen worden, kommt dem unter Zugrundelegung der BGH-Rechtsprechung eine strafrechtliche Relevanz dann in Betracht, wenn und soweit entweder auf unvollständiger Tatsachengrundlage oder unter unrichtiger Bewertung der vollständig aufgeklärten Tatsachen das Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung ausgeschlossen wird.

Bei der 4. Fehlerquelle schließlich ist die gesetzgeberische Intention erkennbar die, dass die zur Gefährdungseinschätzung berufenen Fachkollegien über eine spezifische Einschätzungskompetenz verfügen und sich die gefährdungsindizierenden Umstände in diesen Kompetenzen auch widerspiegeln müssen. Zudem fordert der § 8a Abs. 4 Nr. 2 SGB VIII, dass “bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird“. Es ist alles andere als sichergestellt, dass die Jugendämter über die entsprechenden internen Personalressourcen verfügen, um ein solches Kollegium wirklich fehlerfrei zu besetzen. Sollte die interne Kompetenz nicht ausreichen, müssen je nach Einzelfall externe Experten hinzugezogen werden. Die hier vom Gesetz geforderte Fachkompetenz ist nicht etwa schon dann gegeben, wenn die betreffende Person im Kinderschutz erfahren ist. Fantasievolle Zertifizierungen vieler (privater) Anbieter, bloße Bezeichnungen als “Kinderschutzfachkraft” beweisen noch lange keine fachlich-methodologischen Einschätzungskompetenzen, die je nach Gefährdungslagen etwa Kinderärzte, Psychologen, Lehrer et c. aufweisen. MitarbeiterInnen vom ASD etwa haben diese spezifischen Kompetenzen per se noch nicht deshalb, weil sie aufgrund ihrer Berufsrolle mit Gefährdungslagen von Kindern und Jugendlichen konfrontiert sind.

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